Der Löwe (oder: Frieden finden im psychischen Pelz)

Ich frage die Jeschwister, ob ich ihnen Wünsche aus Speckstein erfüllen darf, und Brother D wünscht sich einen Löwen.

ein Raubtier auf der Pirsch!

An mehereren Tagen und auch mal abends bin ich frohgemut mit meinem Löwen zugange; was nur überhaupt nicht dazu passt sind die Rehakollegen, die jedes Mal mit mehr Begeisterung bekunden: „oh, dein Bär wird aber schön!“ Ich weise sie auf ihren Irrtum hin und mache den Löwen schlank und noch schlanker. Soviel weiß man: Löwen sind eher hager.
Aber je mehr ich raspele und schnitze, desto weniger löwig wird der Löwe. Eines Abends erzähle ich einer Therapeutin von dem Dilemma. Besser gesagt tue ich die Absicht kund, dem Löwen noch heute klar zu machen, dass er kein Bär ist, schließlich hat der Bruder sich ja einen Löwen gewünscht und keinen Bären! Außerdem hat Ergotherapeut K. gesagt, dass aus jedem Stein alles werden kann! Erstaunlich, dass ich bis dahin das Gegenteil geglaubt hatte: dass der Stein dem Bildhauer sagt, was er werden will.
Sie äußert, dass dieser Stein vielleicht doch einen eigenen Willen hat und genau deswegen kein Löwe werden will, sondern ein Bär: damit ich ihn nicht verschenke und er bei mir bleiben kann.

Als ich in den leeren Räumen der Ergotherapie sitze, wird mir klar, dass es fast mein ganzes Leben lang so gewesen ist: irgendwer – zB ich – hat beschlossen, dass ich gefälligst an eine bestimmte (Arbeits)stelle passen sollte, und es hat nicht gepasst und dann wurde so lange an mir herumgeschliffen, bis ich in das enge Löwenfell passte. Aber das kann ein Bär nicht. Ein Bär ist kein Löwe.

Schließlich wieder unter Menschen werde ich folgsam gefragt: „Wie läuft’s mit dem Löwen?“
„Er ist ein Bär geworden“, bekenne ich glücklich und zufrieden und präsentiere das Werk.

„Den Kopf bärig machen, die Bearbeitungsspuren beseitigen und alles glätten, Specksteinöl drauf und ferdsch“, umreiße ich die verbleibenden Aufgaben, was tatsächlich ganz fix geht, seit ich Frieden gefunden habe in meinem psychischen Bärenpelz.

frisch geölt: dunkelgrau-hellgrau gestromt mit einem hellen Ohr
vor dunklem Hintergrund wirkt er heller, zudem ist das Öl eingezogen
– zuhause bekommt er gelegentlich eine Olivenölmassage, das haben wir schon vereinbart

Am meisten hat mich beeindruckt, dass ich den ganzen Bär ohne Vorlage und andere Hilfsmittel gemacht habe. Großen grauen Stein genommen, paar mal gedreht und gewendet, an der Sägekante des Steins ne Linie gezogen für rechte Pfoten und linke Pfoten, und dann munter losgearbeitet.
Zugleich hat mich genau das sehr geerdet und mich meiner Herkunft versichert. Ich habe eine Großtante, die Bildhauerin war, und auf einmal wurde mir klar wie selten zuvor, warum ich sowas kann (und sicher noch viel mehr).
Gut vererbt – danke!

2 Gedanken zu „Der Löwe (oder: Frieden finden im psychischen Pelz)

  1. pateco

    Wow, der Bär ist richtig gut geworden! Da ist tatsächlich eine Begabung!
    Und das klingt nach einer sehr guten Therapeutin!

    Der große Bildhauer Michelangelo hat übrigens gesagt: „Jeder Steinblock hat eine Statue in sich und es ist die Aufgabe des Bildhauers, sie zu entdecken.“ Du hast den Bären entdeckt und befreit!

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