
Helena Steinhaus, Gründerin von Sanktionsfrei e.V., erhielt am 12.6. von der Stadt Marburg und der Humanistischen Union (HU) Marburg das Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte. Der Preis gilt ihrem Eintreten für einen angstfreien Bezug von Sozialleistungen.
Hier die gekürzte Fassung ihrer Dankesrede. Die vollständige Rede findest du in der Frankfurter Rundschau.
Ich nehme das Marburger Leuchtfeuer nicht als persönliche Ehrung an, sondern stellvertretend für alle, die in diesem Land durch Armut systematisch oft in große Not gebracht werden. Ich nehme es als Mahnung und als Erinnerung daran, dass wir in einem der wohlhabendsten Länder der Welt leben, in dem trotzdem 14 Millionen Menschen, also ein Fünftel, unterhalb der Armutsgrenze leben müssen. […]
Unsere Arbeit bei Sanktionsfrei zeigt klar: Das Bürgergeld reicht nicht für gesunde Ernährung, nicht für gesellschaftliche Teilhabe, nicht für ein Leben in Würde. Hinzu kommen Behördenwillkür und bürokratische Hürden, die die Menschen an ihre Grenzen bringen. Dabei hängt Erwerbslosigkeit – wie die Zahlen ganz klar belegen – fast nie mit mangelndem Willen zusammen. Sondern mit Krankheit, fehlender Betreuung, prekären Arbeitsbedingungen, Pflegearbeit oder schlichtweg damit, dass es nicht ausreichend existenzsichernde Stellen gibt. Oder die Betroffenen gehören zu den 1,5 Millionen Kindern im Bürgergeld. Von einer „sozialen Hängematte“ fehlt jede Spur – es sei denn, man meint damit das Wartezimmer im Jobcenter.
Es wird von „Leistungsgerechtigkeit“, von „Eigenverantwortung“, von „Fördern und Fordern“ geredet. Aber man muss noch nicht einmal genau hinschauen, um zu bemerken, dass diese Prinzipien erstaunlich oft nur nach unten gelten. Wir haben ein System kultiviert, das Menschen in Not nahezu notorisch misstraut und kontrolliert – und das gleichzeitig Machtkonzentration großzügig toleriert.
Es ist völlig normal, dass Menschen nach 40 Jahren Vollzeit direkt in Altersarmut landen. Oder dass jemand, der 50 Euro zum Geburtstag bekommt, dieses Geschenk dem Jobcenter zurückgeben muss. Während Millionen- und Milliardenvermögen steuerfrei die Generationen wechseln, Arbeit viel höher besteuert wird als Kapitalerträge, Steuern im großen Stil vermieden und hinterzogen werden und Gesetze von denen geschrieben werden, die hinterher auch von ihnen profitieren.
[…] Diese Schieflage ist keine Panne. Sie ist Prinzip. Sie ist Ausdruck der Bigotterie eines Systems, das „soziale Hängematte“ brüllt, wenn jemand lächerliche 563 € Bürgergeld bekommt – aber großzügig wegsieht, wenn Superreiche ihre Milliarden vermehren und sich dabei an der Allgemeinheit bedienen und sie sogar betrügen. Stichwort: Cum-Ex.

[…] Was wir alle erleben, ist keine „Sozialstaatskrise“. Es ist eine Gerechtigkeitskrise. Und es ist eine Krise des politischen Mutes, sich mit den Privilegierten, Reichen und Mächtigen anzulegen: Armut ist kein Naturgesetz. Sie ist gemacht und gewollt.
Ein schlechtes Sozialsystem ist nicht nur für die Menschen schlecht, die davon leben müssen. Sondern es ist zugleich eine Drohkulisse, gerichtet an alle, die arbeiten. Das Signal ist klar: Mach deinen Job, denn hier willst du nicht hin! Und es funktioniert! Im europäischen Vergleich hat Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren.
Aber das könnte ganz anders sein! Wir könnten den Menschen auch eine echte Verhandlungsgrundlage und damit eine menschenwürdige Grundsicherung gönnen. Vielleicht müssten millionen- und milliardenschwere Unternehmen dann höhere Löhne zahlen – was nur fair wäre.
[…] wir als Sanktionsfrei [sagen] ganz klar: Das Minimum ist ein sanktionsfreier Regelsatz, der tatsächlich zum Leben reicht – mindestens 813 Euro, wie der Paritätische Gesamtverband ausgerechnet hat. Selbst damit haben die Betroffenen leider noch genug Sorgen.
Was ich darüber hinaus fordere, ist so einfach wie weit entfernt: Vertrauen statt Kontrolle und Drohung. Augenhöhe statt Herablassung und ein Ende des Generalverdachts durch Behörden, die selbst oft überfordert sind, weil sie ein System umsetzen müssen, das Menschen brechen soll, nicht begleiten.
Ich danke der Humanistischen Union für diesen Preis und dafür, dass sie sichtbar macht, was sonst lieber übersehen wird. Aber dieser Dank kommt mit einem Versprechen: [Wir] werden unbequem bleiben. Und wir werden nicht aufhören, bis wir dieses System überwunden haben.
Denn das Leuchtfeuer, das Sie mir heute geben, das tragen viele längst in sich. Und es wird heller, je mehr wir werden. Danke auch an alle, die unsere finanzielle und juristische Unterstützung für Betroffene mit ihren Spenden möglich machen!
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Ergänzend empfehle ich:
„Riesiges Problem“: Wie reiche Menschen Deutschland betrügen, ohne Steuern zu hinterziehen »Bevor wir über Steuern oder gar Steuerhinterziehung sprechen, reden wir dann über Bürgergeldbetrug«; ebenfalls Frankfurter Rundschau
Bildschirmfotos unten: Quelle



Aus den Kommentaren unter der Dankesrede …

Das Argument nehm ich mir beim nächsten Streit mit dem Amt der Ämter.

Ich würde gern . eine Rede sollte freilich nicht ausufern – am Anfang etwas nicht kritisieren, sondern präzsieren. Durch Armut in Not getrieben ist mir zu einfach. Was ist mit denen, die durch große Not, etwa schwere Krankheit, und das ist nur ein Beispiel, in die Armut getrieben werden? Und ist Armut nicht bereits Not genug? Not und Armut sind manchmal ununterscheidbare Zwillinge.
Ansonsten stimme ich so gut wie uneingeschänkt zu. Dort anzusetzen, wo sich Not mit Wehrlosigkeit paaren, ist einfach, billig und Absicht. Man kann dafür anderswo weniger genau hinschauen. Natürlich wird ein Steuersünder, wenn es ihm nachgewisen wird, streng bestraft! VErmutlich kennt jeder jemanden. Einen kleinen Hanwerker oder andere Leute, die halt so über die Runden kommen. Wenn es noch etwas mehr sein darf, so werden gern außergerichtliche Einigungen oder auch wegen der großen Not des Angeklagten und seiner hochqualifizierten Anwälte Lösungen gesucht und gefunden, die nicht allzu schmerzlich sind. Das ist eine oft und gern zu beobachtende Tatsache.
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