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aufsässige Bäume

auf keinen Fall werde ich Bäumen irgendwelche menschlichen Eigenschaften andichten, so wie andere es mit ihren Hunden oder Webseiten tun.

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Beim Doku-Schauen (es ging um den Nationalpark Bayrischer Wald und andere Wildnisreservate) fiel mir dieses Bild so schön auf, dass ich einen Screenshot davon nahm. Die Bäume tun nämlich, was hierzulande die wenigsten Pflanzen tun: sie sind Epiphyten geworden = Aufsitzerpflanzen.

Screenshot aus: „planet e: Wildnis in Deutschland“. Rechte beim ZDF

Da ist vor längerer Zeit eine dicke Fichte umgefallen und liegen geblieben, niemand hat im Wald aufgeräumt, er wurde sich selbst überlassen. Der Baum ist von Pilzen und kleinen Tierchen zersetzt und verstoffwechselt worden, dadurch sind Nährstoffe entstanden, die im Boden weitgehend fehlten – das Gebiet war mindestens 100 Jahre als Fichtenmonokultur für die Holzwirtschaft missbraucht worden, was auch den besten Boden irgendwann als übersäuerten Dreck zurücklässt.
Und dann sind da Fichtensamen gelandet und haben ihre sensiblen Kinderjahre im guten pH-neutralen Baumkompost zugebracht und als sie stark genug waren, haben sie ihre Wurzeln auch in den Boden gestreckt und wurden selbst zu großen Bäumen.

Das Bild ist mir aufgefallen, weil ich sowas noch nie in Echt gesehen hatte. Eigentlich traurig, oder? Es sollte nämlich etwas normales sein. Was ich oben beschrieben habe, ist ein ganz natürlicher Vorgang.

Wir leben in aufgeräumten Baumplantagen und denken, das sei Wald. Aber Wald hat nicht zufällig drei gemeinsame Buchstaben mit dem Adjektiv „wild“. Wald kann wild vor sich hin wachsen, er braucht keine Pflege – vor allem wenn die immer mit der Motorsäge geschieht. Deutschlands bekanntester Förster Peter Wohlleben vergleicht das in einem Interview mit dem Beruf des Metzgers, den ja auch niemand einen Tierpfleger nennen würde.

Wahrscheinlich hab ich Glück, denn ich kenne eine Baum-bestandene Fläche (a.k.a. Wald), die in Ruhe gelassen wird, in der Holz liegenbleibt, wo es hinfällt und liegenbleiben darf, bis man es nicht mehr vom Waldboden unterscheiden kann. Aber der Wald steht noch ganz am Anfang seiner Wildnisentwicklung. Die Reihen der Fichten, wie sie vor 80 oder 100 Jahren gepflanzt wurden, sind noch gut zu erkennen.

Denk dir nur: Ein Wald mit Totholz ist ein Wald voller Leben! All die kleinen Tierchen, die aus Holz wieder Humus machen – sie fehlen in unseren aufgeräumten Wäldern.
Wenn alte Bäume gefällt werden (aus Gründen der Vorsicht natürlich, damit niemand den Waldbesitzer verklagen kann, weil ihm ein Ast auf den Kopf gefallen ist) und fortgeschafft, um sie wenigstens noch als Brennholz zu verkaufen, verliert der Wald an Artenvielfalt. Keine Spechte mehr, die Höhlen ins Holz meißeln. Keine Fledermäuse mehr, Eulen, Siebenschläfer, Kleiber und wie sie alle heißen, die in ehemaligen Spechthöhlen leben – und das sind jetzt nur die Tiere, die mir spontan eingefallen sind. Keine Insekten mehr, die Totholz als Kinderstube nutzen. Keine Pilze mehr, die alles miteinander verbinden und dazu eine Horde anderer Tiere ernähren. Wildschweine zB liiieeeben Pilze!
Ich müsste wohl Biologie Fachrichtung „Heimische Wälder“ (falls es das gibt) studieren oder alle Bücher von Wohlleben lesen, um sämtliche Tiere, Pflanzen, Pilze und bis jetzt unentdeckte Lebensformen aufzählen zu können, die in einem „richtigen“, einem wilden Wald leben und die in unseren ordentlichen Wäldern fehlen.

Wildnis, ja, das wäre toll.
Das hat zum Glück auch die Bundesregierung erkannt, und das Bundesamt für Naturschutz formulierte:

Dies ist ein Screenshot! Quelle.

Es war nicht die aktuelle Bundesregierung, sondern das Kabinett Merkel I, das 2007 beschloss, dass sich die Natur auf mindestens 2% der Landfläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln solle. Dieses Ziel sollte überwiegend durch großflächige Wildnisgebiete realisiert werden. Die Wildnisgebiete sollten zudem in den länderübergreifenden Biotopverbund integriert werden. Außerdem sollten sich auf 5% der Waldfläche Wälder natürlich entwickeln können. (wörtlich zitiert)
Das Kind wurde „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS)“ genannt und war ein ganz ausgezeichneter Plan, wie ich finde. Na ja, 2% sind sehr wenig, aber das ist immerhin ein Anfang!

Leider war 2020, kurz bevor das x-te Merkelkabinett schließlich abgewählt wurde, u.a. weil die Kanzlerkandidaten der CDU … ach, gib doch mal „Laschet“ ins Suchfeld ein … also, 2020 war nicht mal ein Bruchteil des Vorhabens umgesetzt.*
Dabei sollte Nichtstun in der Natur ja ziemlich leicht sein … einfach mal alle Forstmaschinen und Motorsägen und alles Gedöns mitnehmen und zurück dahin, wo die Erde ohnehin versiegelt ist und die Füße stillhalten. Vielleicht ne Umschulung zum Ranger machen. Und die Natur in Ruhe lassen.
Aber nein, stattdessen haben die Entscheider ganz weit oben die Füße stillgehalten, und statt Wildnis ist – gar nichts passiert. Man hat es an viel zu vielen Stellen weiterlaufen lassen wie bisher.
Und jetzt macht man ein neues ambitioniertes Papier mit neuen Zielen zurecht, sodass alle anderen denken, wow, die Deutschen sind wirklich Vorreiter in Sachen Artenschutz.

*= genauer gesagt haben wir jetzt, 2023, Wildnis auf 0,6% der Landesfläche. Ich will lieber nicht wissen, wie verschwindend gering der Anteil 2007 war …

2011 hatte ich noch keine Ahnung von all dem. Mittlerweile habe ich viel gelesen und gelernt und Zusammenhänge begriffen und es ist mir ein Herzensthema geworden. Sollte die aktuelle Bundesregierung wirklich was verändern wollen, nicht so wie die letzte, können sie mich fragen.
Mehr als Stillstand schaffe ich auf jeden Fall.

Bäume sollten aufsässiger sein.