► Gerechtigkeit ist nie ein Zustand, sondern immer ein Prozess

Gibt es eine absolute, allumfassende, globale, einzelne Gerechtigkeit?
In den letzten Monaten und Jahren habe ich mich wie die Raupe Nimmersatt durch ganz verschiedene Sachbücher gefuttert, die sich mit Ressourcenverbrauch, Klima, politischen Zuständen, Wirtschaftsthemen etc. beschäftigten.
Das Thema Gerechtigkeit kommt in allen diesen Büchern immer wieder vor. Aber immer wieder bin ich auch darauf gestoßen, dass es mit der Gerechtigkeit nicht einfacher ist als mit allen anderen großen Fragen der Menschheit.

Beispiele gefällig? Bitteschön:

Für die Transformation der Energiewirtschaft benötigen wir in Deutschland/Europa Rohstoffe, die wir selbst nicht in ausreichendem Maße besitzen. Länder des globalen Südens aber schon. Und so nehmen wir es als mehr oder weniger selbstverständlich in Kauf, dass riesige Abbaugebiete mit den dazugehörigen Abraumhalden voller giftiger Reststoffe in den südamerikanischen Wüsten entstehen.
Oder im Kongo, in Indonesien, sonstwo, Hauptsache weit weg.
Kinderarbeit? Modernes Sklaventum? Ausbeutung von Mensch und Umwelt?
Wir hier waschen uns die Hände in Unschuld und sehen uns als Saubermänner- und frauen, weil wir einen ständig wachsenden Konsum von Strom, Platz, Wasser und allem möglichen anderen auf eine „grüne“, angeblich nachhaltige Weise und natürlich moralisch überlegen propagieren.
Die Verluste von intakter Natur, auskömmlichen Lebensbedingungen und Biodiversität werden aus unserem Lebensumfeld outgesourct, wie es so schön ökonomisch angehaucht heißt.
Gerechtigkeit sähe eher so aus, dass wir mit unseren Ansprüchen und unserem Verbrauch der Ressourcen zurückhaltender umgingen – sehr viel zurückhaltender. So wie es derzeit läuft, ist es lediglich die Fortsetzung des Kolonialismus mit modernen Methoden.

Tun sich aber die Länder des globalen Südens zusammen, zum Beispiel im Bündnis BRICS*, dann fasst der industrialisierte Norden das primär als Bedrohung auf, nicht so sehr als Wunsch (gemäß des Anteils dieser Staaten) am ganzen Erdball gerecht an den wirtschaftlichen Erfolgen teilzuhaben. Ist das gerecht?

Eine andere Sache: Die Kriege auf der Welt sollen irgendwie auch immer dazu dienen, eine Form von Gerechtigkeit wiederherzustellen. Aber können wir das so absolut stellen?
Schauen wir nur mal in den nahen Osten: Wer hat denn nun endgültig „Schuld“ an der Eskalation? Israel, das als Staat die Palästinenser seit Jahrzehnten mit illegalen Siedlungen zubaut und provoziert? Die Palästinenser als Volksgemeinschaft, die den Israelis den eigenen Staat nicht gönnen?
Seit 1948 spätestens ist klar: Im Bemühen, einem ausgebeuteten Volk Gerechtigkeit zu verschaffen, ist einem anderen Ungerechtigkeit widerfahren. Was man einem Volk* gegeben hat, wurde einem anderen im Gegenzug genommen.
Eine Gerechtigkeit für alle zu schaffen, die dort leben und den Landstrich ihre Heimat nennen, ist angesichts der verfahrenen Situation von Angriffen und Gegenangriffen mehr als nur knifflig.
Fragt man nun die Menschen dort, die nicht mehr wollen als ihr tägliches Auskommen zu erhalten, dann gibt es viele, die sich eine Zwei-Staatenlösung wünschen oder sogar ein gemeinsames Leben in einem Land. Sowohl Israelis als auch Palästinenser sind nicht mehrheitlich mit den Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen einverstanden. Und mehr noch: vor Ort Lebende sehen die Situation meist viel pragmatischer als die Unterstützerszene der einzelnen Parteien hier in Deutschland oder in anderen Drittstaaten.
Die Ungerechtigkeit, die sowohl Juden, Muslime als auch Christen dort erleben – in der gemeinsamen Wiege ihrer Religionen – ist eine schwärende Wunde und ein schmerzliches Versagen bei der Suche nach gerechten Lebensverhältnissen.

Ich denke mal, jedem von uns werden im familiären, lokalen, regionalen oder nationalen Umfeld Beispiele einfallen. Jeder von uns hat ein besonderes Augenmerk auf bestimmte Dinge, die ihm oder ihr wichtig sind. Das ist im Übrigen gut so, denn dadurch wird immer wieder auf die Vielzahl von berechtigten Anliegen hingewiesen.

Gerechtigkeit ist immer ein Interessenausgleich; innerhalb unseres Daseins auf dieser Welt wird sie nie absolut erreichbar sein. Sie ist stets mit Kompromissen verbunden, sie muss immer wieder neu ausgehandelt werden.
Sie ist nie ein Zustand, sondern immer ein Prozess.

Gerechtigkeit bedeutet, sich in die Situation der „Gegenseite“ hineinzudenken, bereit zu sein, Maximalpositionen fallen zu lassen, sich gedanklich immer weiterzuentwickeln.
Das macht unser Streben nach Gerechtigkeit zu einer manchmal anstrengenden, aber immer spannenden Suche.
Es lohnt sich auf jeden Fall, dabei am Ball zu bleiben.

* Mir ist bewusst, dass „Volk“ ein bisschen schräg klingt. Aber die Synonyme treffen es auch nicht besser.

Anja Scharf/Annuschka

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* der Nebensatz zwischen den Kommas ist eine Einfügung von mir (Vorgärtnerin), da ich die ursprüngliche Formulierung missverständlich bzw ungenau fand:
Tun sich aber die Länder des globalen Südens zusammen (erstmal wertfrei ungeachtet der Tatsache, dass mit China und Russland zwei autokratische Schwergewichte dabei sind, das steht auf einem anderen Blatt), dann fasst der industrialisierte Norden das primär als Bedrohung auf …
Russland und China dem globalen Süden zuzurechnen ist doch außerhalb BRICS etwas ungewöhnlich.
··► Ich gebe das hier an, weil ich nicht die Zensur bin.

3 Gedanken zu „► Gerechtigkeit ist nie ein Zustand, sondern immer ein Prozess

  1. Avatar von gerlintpetrazamoneshgerlintpetrazamonesh

    Gerechtigkeit als Absolutum gibt es nicht. Wer sie will, der muß lange warten. Mindestens bis zum jüngsten Gericht. Und dann gefiele ihm womöglich der Urteilsspruch nicht. Es gibt keine Gerechtigkeit im kleinen oder großen Rahmen. Zwischen Staaten, Völkern, Gemeinden, Nachbarn, in Familien. Wie teile ich den Geburtstagskuchen gerecht? Bekommt das größte Stück das Geburtstagskind mit Diabetes Typ 1 oder sind alle Stücke gleich groß? Es haben nicht alle gleich viel Appetit und Hannah ist auf Nüsse allergisch, die darf gar nicht… Juchhu ruft Tommy, mehr für mich! – Hannah und das Geburtstagskind sind beleidigt.

    Nein, Gerechtigkeit gibt es so nicht. Es gibt nur eine Minderung und Abmilderung der Ungerechtigkeiten, die sehr wohl teilweise naturgegeben sind. Was aber wichtig ist: Jeder – die Betonung liegt darauf – müßte von seinen Maximalforderungen und -wünschen abrücken. Selbst und gutwillig, denn sonst fühlt er sich ja wieder übervorteilt!

    Wie weit sind wir davon entfernt? – Ja, wie weit ich selbst? Ja doch, nutzt eure Spiegel!

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    1. Avatar von VorgärtnerinVorgärtnerin Autor

      Ich antworte mit Luther:
      „Was sollen wir nun hierzu sagen?“
      Du hast natürlich recht, wobei ich das Geburtstagskuchen-Beispiel ziemlich kurz gegriffen finde.
      Andererseits, wie willst du diese komplexe Angelegenheit in einem Kommentar unterbringen?

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      1. Avatar von gerlintpetrazamoneshgerlintpetrazamonesh

        Natürlich kann man die Thematik nicht erschöpfend behandeln, ganz gewiß nicht in den üblichen Zeitungsspalten oder gar den langwährenden, aber Neues vermissen lassenden Abendsendungen, ganz recht! Nur das Wesentliche sollte gesagt sein, dass schon das Bemühen oft fehlt. Und ohne viel guten Willen wird nichts weitergehen. Wo aber die Zivilgesellschaft sich vor den Schußwaffen ihrer eigenen Söhne, ihrer eigenen Beschützer duckt, da wird nichts vorangehen.

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